Die fünf Tage von Tritonus
Ende April 2010 verbrachte der Autor, Biertrinker und Tierfreund Josef Winkler – im Folgenden „der Protokollant“ genannt – fünf Tage in den heiligen und meist schön duftenden Hallen der „Tritonus Studios“ in Berlin-Kreuzberg um Wir Sind Helden bei der Produktion ihres vierten Albums über ihre Schultern hinweg auf die Finger zu schauen. Lesen Sie an dieser Stelle das erschütternde, faszinierende und mitunter schier witzische Protokoll dieser ganz normalen Woche im Leben einer hart arbeitenden Band.
Anmerkung zur Zweisprachigkeit:
Weil der Produzent des Albums -Ian Davenport- Engländer ist, herrschte im Studio ein stellenweise recht kreativer Sprachmix aus Deutsch und Englisch. Die Dialoge in diesem Protokoll sind meist in Originalsprache gehalten. Hin und wieder sind Sätze, die tatsächlich auf Englisch gesprochen wurden, übersetzt, weil in der Eile des Moments ein Mitnotieren auf Deutsch einfacher erschien; das gilt besonders für Gespräche im Beisein von Produzent Ian, bei denen auch von den Bandmitgliedern untereinander meist Englisch gesprochen wurde.
Teil 1
19. April 2010
Ein halber Montag
Die Studiobeobachtungswoche beginnt mit einem Abschluss. Der heutige Tag, der sechzigste der Studiozeit des neuen Helden-Albums ist der letzte, an dem der Basic Track für einen Song live aufgenommen werden soll. „Live“ heißt in diesem Fall: Die ganze Band spielt den Song zusammen, um den Basic Track, sein Fundament zu erhalten, auf dem dann der Song mithilfe von Overdubs fertig gebaut wird. Nach diesem heutigen Tag stehen dann nur noch Overdub-Sessions auf dem Plan.
Wir sind Helden nehmen zum ersten Mal mit dieser eher für Rock- denn Popproduktionen üblichen Live-Methode auf. Bei den Alben davor wurde meist nach dem Overdub-Prinzip Schicht für Schicht aufgenommen.
Kommentar Judith: …weil wir, ehrlich gesagt, bei all der Achterbahnfahrerei der letzten Jahre bisher gar nicht dazu gekommen sind, uns so vorzubereiten, wie man das für´s Live –Aufnehmen tun sollte. Durch Üben, zum Beispiel. Bei den letzten Platten sind wir praktisch mit Songskizzen ins Studio gegangen, die wir dann erst richtig „ausgemalt“ haben und später, wenn die Platte längst fertig war, mal eben schnell live –tauglich einbimsen mussten.
11:07 Uhr
Alle hierfür erforderlichen Musiker sind aus ihren jeweiligen Wochenenden heraus im Studio eingetroffen.
Judith Holofernes und Pola Roy haben ihre zwei Kinder einer fürsorglichen Babysitterin bzw. einer Kita anvertraut und sind bereit.
Jean-Michel Tourette ist für eine weitere Studiowoche aus Hannover angereist, Frau und Kind in der Niedersachsenmetropole zurücklassend; sie werden ihn später in der Woche besuchen kommen.
Jörg Holdinghausen, der unter anderem bei der befreundeten Band Tele spielt, ist bei den Aufnahmen als Gastmusiker dabei. Sein Dabeisein ermöglicht ein munteres Instrumentenkarussel und führt dazu, dass…
… Mark Tavassol an den von mir beobachteten Tagen hauptsächlich verschiedene Gitarren, ein Banjo und eine spanische Laute in der Hand hält. Er ist aus Hamburg angekommen.
Produzent Ian Davenport ist wie üblich schon vor allen anderen da gewesen. Wüsste man es nicht besser, könnte man den Eindruck bekommen, dass Ian IMMER im Studio ist und FAST IMMER auf seinem Drehstuhl zwischen Mischpult und Computerbildschirm sitzt. Wenn man morgens ins Studio kommt, ist Ian schon da. Wenn man abends geht, ist Ian noch da. Ian ist Engländer, aus Manchester, wohnhaft in einem kleinen Dorf in der Nähe von Slough, bekannt aus der beliebten Fernsehserie „The Office“. Ian spricht kein Deutsch, außer einigen ausgesucht schönen Wörtern wie „Sehnsucht“ („sääähnsuukt“) und „Wehmuut“ („wächmuut“). Die lingua franca im Studio ist Englisch, was einem irgendwann gar nicht mehr auffällt.
Kommentar Judith: Das braucht vielleicht eine kurze Erklärung… Engländer ist Ian nämlich eher aus Zufall, und mit Internationalemdurchbruchswillen etc. hatte diese vielleicht überraschende Wahl wenig zu tun. In erster Linie war er eine Empfehlung eines Freundes, der viel in der Welt rumkommt. Und Ian hat sich uns wiederum im ersten Treffen vor allem durch Freundlichkeit und einen bestechenden Musikgeschmack empfohlen. Genauer gesagt dadurch, dass er uns zu der CD mit Sache, die er gemacht hat, eine viel voller bepackte CD in die Hand gedrückt hat mit Sachen, die er mag. Das fanden wir super, weil es nämlich unheimlich schwer ist, Produzenten anhand von dem auszuwählen, was sie vorher gemacht haben – weil man nie weiß, welchen Anteil am Sound die Band selber hatte. Und bei ähnlichem bis deckungsgleichem Musikgeschmack weiß man zumindest schon mal, dass man auf die gleichen Referenzen zurückgreifen kann. Bei Ian und uns ist der Mixtape –Austausch auf jeden Fall voll aufgegangen.
11.30 Uhr
Jean zieht sich in den Aufnahmeraum zurück um sich etwas warmzuspielen. „Ich hab großen Respekt vor dem Song, der jetzt kommt“, sagt er. Das Lied heißt „Bring mich nach Hause“, es ist – wie der Protokollant feststellen wird – der dunkelste Song, den Wir sind Helden je gemacht haben, und Jean spielt das elegische Pianomotiv, das in seinem Zentrum steht.
Ian stellt fest, dass die Tonköpfe der Tapemaschine schon wieder verschmutzt sind. „Das liegt wohl daran, dass ich immer so heiß gespielt habe, dass das Tape klebrig geworden ist“, mutmaßt Mark. Hm. Ian vermutet, es könnte auch an der mangelnden Qualität des Tonbandmaterials liegen. Jedenfalls ist es ärgerlich, dass er ständig mit Wattestäbchen und Alkohol ran muss.
FAKTUM: Die Band nimmt alle Parts zunächst auf Magnetband auf, um die Wärme und Tiefe des Analog-Sounds zu erhalten; in der Ecke ruckelt und spult eine Tape Machine der renommierten Marke Studer. Diese Analogaufnahmen werden dann in das digitale System überspielt, wo sie be- und verarbeitet werden können, Editing und Mix. Eine digitale Aufnahme läuft allerdings als Sicherheitsmaßnahme immer von Anfang an mit.
Kommentar Pola: Was gut ist, weil so ein Magnetband gerne mal abraucht oder auch einzelne Instrumente frisst. Und dann ist es gut, das ganze auch noch digital aufgenommen zu haben….
11.32 Uhr
Allgemeines jammiges Warmspielen. Jean spielt das melodramatische Pianomotiv der Strophe des Songs im Loop. Dann wird’s jazzig. Dann wird’s avantgardistisch. Dann wird’s atonal. Jean am riesigen Flügel. Jörg am Bass. Mark hinter einer Batterie von Keyboards. Pola in einem Glaskasten, der von seinem Schlagzeug fast ausgefüllt wird. Judith räumlich getrennt von den anderen in einer selbstgezimmerten Gesangskabine in der „Regie.“
FAKTUM: Das „Tritonus“ besteht aus zwei Studios. Wir sind Helden arbeiten in Studio 2, dem größeren der beiden, in dem sie sich für drei Monate eingemietet haben, einen davon alleine zum Proben. Hier haben in den letzten Jahren z.B. auch Die Ärzte, Element of Crime und Seeed aufgenommen – und die Helden ihre allererste Platte. Das Studio besteht zum einen aus dem großen Aufnahmeraum mit fast dem gesamten Instrumentarium darin. Der Aufnahmeraum ist durch eine Glasscheibe getrennt von der „Regie“, wo hinter dem riesigen Mischpult und zwischen tausendknöpfigen Türmen von Geräten und Computern der Produzent sitzt. In der linken hinteren Ecke des wohnzimmergroßen Raumes steht die Bandmaschine. In der rechten Ecke wurde mit beweglichen Wandelementen eine Gesangskabine für Judith installiert.
Kommentar Judith: Wegen dieses Kabuffs haben mich alle immer wieder mitleidig angeguckt, bzw., im Falle von Mark, mitleidig Blümchen reingestellt. Aber ich hab mich da sehr wohl gefühlt und fand es toll, so für mich zu sein und mich auf´s Singen konzentrieren zu können.
11.48 Uhr
Noch mal kurze Pause.
Kaffee, Wasser und Fachgesimpel über Schlager. Es ist ein Nebenprojekt dieser Schallplattenproduktion, den ausländischen Produzenten Schritt für Schritt mit Errungenschaften der deutschen Popkultur vertraut zu machen, wie eben dem Schlager. „Die Engländer haben ja keinen Schlager“, erklärt Mark. Haben sie doch! Ian hat über das Wochenende offenbar seine Hausaufgaben gemacht und verglichen. „We have a band in England that’s exactly like Die Flippers. Black Lace. They’re really naff.“ Wir lernen im Gegenzug also das hübsche englische Wort „naff“ (sprich: ‚naahff’): „stillos“, „blöd“, „ätzend“, „bescheuert“.
Jean inszeniert einen kontemplativen Moment um sich herum und erläutert dem interessierten Beobachter, dass er vor so einer Aufnahmesession immer versucht, in die richtige Stimmung zu kommen, indem er mit dem Universum in Kontakt tritt und dass das eigentlich nicht seine Finger sind, die das Klavier spielen, sondern sein ganzer Körper, durch den dann die Energie des Weltenalls fließt und zu Musik wird. Okay. Gottseidank geht’s jetzt bald los.
Letzte Instruktionen durch den Produzenten. „It’s a sunny day. But I don’t want to hear this in the recording.“ In der Tat ist der Aufnahmeraum an diesem strahlenden Frühlingstag so herrlich lichtdurchflutet und dazu alle so gut gelaunt, dass man sich die dunkle Stimmung des aufzunehmenden Songs wirklich zu 100 Prozent dazudenken muss. Das geht so nicht. Ein Geistesblitz: Jean zieht den Vorhang des großen Fensters zu – voilà: zumindest mild herbstliche Stimmung im Aufnahmeraum. „I like the darkness“, sagt Ian und bietet an, noch ein wenig das Licht zu dimmen.
„Okay, nice and clean take, please“, fordert Ian. Jean hat Größeres vor: „No. Let’s make history!“
Bevor’s jetzt wirklich losgehen kann, muss noch etwas Wichtiges angesprochen werden – offenbar muss der Hannoveraner Jean das aus seinem Kopf kriegen, um sich konzentrieren zu können. Es wird kurz thematisiert, dass Hannover 96 am Wochenende 0:7 gegen Bayern München verloren hat. Betretenes Schweigen. Der bayerische Protokollant enthält sich vornehm eines Kommentars. „That’s a pretty bad result“, stellt Ian fest.
FAKTUM: Als „take“ bezeichnet der Profi bzw. Checker einen einzelnen Aufnahmedurchlauf eines Songs oder Songteiles. Einen Take erkennt man als noch nicht so viel raffender Beobachter daran, dass das Band läuft; wenn die spielen und es läuft kein Band, ist es nur eine Probe.
Kommentar Judith:… und dass der Produzent die Band austrickst, merkt die Frau, die als einzige Einblicke in sein Tun hat (wegen eben jener Gesangskabine in seinem Rücken), daran dass er grinst und das Band läuft, obwohl alle denken, dass sie nur proben. Was man wiederum daran merkt, dass sie gegen Ende eines wunderbaren Takes dazwischenlabern.
12:07 Uhr
Es geht los.
Die MusikerInnen haben ihre Plätze im Aufnahmeraum bzw. in der Gesangsbox eingenommen. Alle tragen Kopfhörer, auf denen sie das hören, was sie da gerade zusammen spielen, wobei jede(r) die Abmischung individuell für sich an einem kleinen Mischpult einstellen kann („Ich mach mir Pola etwas lauter“). Die Kommunikation mit dem Produzenten hinter der Glasscheibe erfolgt über Mikrofon -Hinundher.
Erster Probedurchlauf. Ein sehr kontemplativ-elegisches Pianomotiv, eine dunkle Ballade über Erlösung.
Ian: „The bass feels a tiny bit hollow.“
Jörg: „Hollow means…?“
Ian: „Empty in the middle.“
Jörg hat zwei Ansätze für den Bass und klärt mit Ian, für welchen er sich entscheidet.
Ian und Jean baldowern aus, wie Jean das Pianomotiv am Ende spielt. Mit Harmonien?
Jean: „In the last chorus I tried to improvise a bit on the riff. Is it too strong?“
Ian: „No, that’s not too strong.“
Der Crescendo-Teil des Pianos im Refrain, der mit David Lynch eigentlich nicht direkt verwandt ist, erinnert doch von der Stimmung her schwer an das Titelthema der TV-Serie „Twin Peaks“ und heißt im Produktionsjargon hier daher auch einfach „the Twin Peaks“.
Der Song hat keinen Schluss, man beschließt, ihn als „fade out song“ anzulegen, also als einen jener Songs, die langsam ausblenden anstatt mit einem sozusagen „komponierten“ Schluss zu enden. Hierfür muss die Band über das Ziel hinaus weitermusizieren und die finale Taktfolge mehrmals wiederholen, damit hernach genug Musik zum Ausblenden da ist.
Pola: „Vielleicht gibst du uns dann ein nettes, gefühlvolles Zeichen, wenn wir langsam zum Ende kommen sollen.“
Ian: „Ich schrei einfach ‚Genug! Genug damit, hört endlich auf!’“
12.30 Uhr
Probedurchlauf.
Mark macht am Keyboard die Trompete. Eine Art Trompete. Eine ziemlich cheesy Trompete, wenn man sie so isoliert hört. Mark spielt kurz den 70s-Schnulzenhit „If You Leave Me Now“ der Band Chicago an, und sofort weiß man, woher man diesen Sound kennt. Im Mix der Instrumente klingt die Keyboardkäsetrompete dann wundersamerweise nicht mehr nach 70s-Schnulzenkeyboard, sondern hübsch.
12:36 Uhr
Zweiter Take. Das Tape läuft.
„Bring mich nach Hause, ich bin schon zu weit draußen“, singt Judith.
12:42 Uhr
Ian regt an, sie sollen nicht einfach nur weiterspielen in den Fadeout hinein, sondern ein paar kleine Extrasachen machen in diesen letzten „cycles“, „to hint that there’s room for growth.“ Ein bisschen was auf dem Schlagzeug, auf dem Bass, auf dem Piano. Kleine Sprengsel.
Das Tempo und der angestrebte organische Groove sind ein Problem. Es wird diskutiert, wer das Tempo vorgibt und wie’s dann weitergeht – wer richtet sich nach wem? Pola nach Jean? Jean nach Pola?
Jean: „Let’s not think too much.“
Ian: „Yeah. Let’s not think too much. Let’s not think at all, let’s just play! … Okay, think a tiny bit.“
„Ich brauche tiefe schwarze Nacht hinter meinen Lidern“, singt Judith.
In der Regie hört man aus den kleinen Boxen so eine Art Lo-Fi-Version von dem, was da gerade gespielt wird, aber wenn man den Kopfhörer mit dem „Headphone-Mix“ aufsetzt, gehen einem die Ohren auf. Der Laie ist versucht zu sagen: Huch, das ist ja fertige Musik!
12:52 Uhr
Ian, Jean und Mark vertiefen ihr Fachgespräch über den Aufbau des Piano-Akkordes am Ende des Songs und ein spezielles Ton-Intervall.
Jean: „It’s a tritonus.“
Ian: „A triad?“
Mark: „No, a … tritonus.“
Ian: „You mean it’s a studio?“
12:55 Uhr
Pinkelpause
Ian weist Jean hochoffiziell an, mehr die Führungsinitiative über den Song zu übernehmen und sich nicht zu sehr an Judiths Gesang zu hängen.
Jean: „Okay, I’ll make Judith a little bit leiser.“
Judith: „Don’t you dare!“
Jean: „I’m the leader. Just follow ME.“
Ian: „You’re the tempo king.“
Pola bittet sich aus, die Position des „tempo king“ innerhalb der Band später noch einmal aufs Tapet zu bringen. In Ruhe.
An der Tür hängt ein Zettel mit möglichen Albumtiteln:
Wir sind Helden (self-titled)
Bring mich nach Hause
Kreise
Alles ist alles
13:02 Uhr
Vierter Take.
„Ich brauche einen Freund mit weiten Armen, ich brauche einen Freund, der kein Erbarmen kennt“, singt Judith.
13:08 Uhr
Der Fade-Out naht. „Okay, one more cycle.“ Ian ist nicht ganz zufrieden. Erste Strophe und Refrain waren schon ganz gut, sagt er, aber dann sei Jean ein bisschen zu „pushy“ gewesen. Aha. Jean erklärt, er höre den Groove im Mix sehr „boo-boom-boom“, sehr „steady“. Soso. Ian merkt an, „the second verse didn’t drop to any dynamic on the vocal.“ Oho. Der Protokollant rafft weniges.
Dann endlich ein klares Wort zur rechten Zeit:
Jean: „It’s Ian who has to say who’s playing the … blablabla.“
Ian: „Okay. You’re playing the blablabla.“
13:14 Uhr
Um die Jungs besser ins Gefühl für das Tempo zu kriegen, spielt Ian für den nächsten Take versuchsweise einen Click ein, ein Metronom-Ticken „auf die 6“, das alle auf ihre Kopfhörer gelegt bekommen.
„… der mich zu Boden ringt, ich tobe und rase, ein Tuch mit Äther über Mund und Nase“, singt Judith.
Tolle Ringo-„Abbey-Road“-mäßige Trommeleien von Pola. Aber Ian ist immer noch nicht zufrieden mit dem Swing. Das mit dem Click haut auch nicht hin. Der Click „blutet die ganze Dynamik raus“ aus dem Song und hat dazu geführt, dass er „all of its circular motion“ verliert. „It feels a little jaunty still, a little too perky and upbeat.“ Too jaunty and perky? Ja, man möchte fast sagen: zu peppig.
13:18 Uhr
Darum will Ian jetzt eine andere Herangehensweise probieren. Jetzt sollen einmal nur Jean und Judith den Song spielen bzw. singen, damit Jean freies Spiel hat, um sein Tempo und seinen Groove für das Piano zu finden; der Rest der Instrumente käme dann per Overdub hinzu. Spontane Reaktion aus der Gesangsbox: „Herrgottzack!“
Warum Herrgottzack? „Weil das total schwierig ist. Weil das Lied so ’ne eiernde Pianolinie hat. Und da passend draufzukommen, ist extrem schwierig.“ Judith findet’s furchteinflößend. Und warum wird hier jetzt auf Deutsch gedacht, auf Englisch gesprochen und auf Bairisch geflucht? Egal.
Pola und Mark kommen aus dem Aufnahmeraum, kopfschüttelnd. „Playing a song without drums… that’s mad!!“, poltert Pola und macht mit der Hand Scheibenwischerbewegungen vor der Stirn. Auch Mark ist perplex. „Without the fake trumpet as well! I mean … that’s the essence of the song!“
13:22 Uhr
Take five. Nur Jeans Piano und Judith.
Laienmeinung: Aufm Kopfhörer klingt’s schon mal super.
Jean: „Wahh. That felt horrible.“
Ian: „It actually felt much better in here. I think you played it really nicely, man.“
Jean erklärt, er habe bei den Proben des Songs immer gedacht, das würde sich dann bei den Aufnahmen in Wohlgefallen auflösen, aber er hat immer noch Probleme mit dem Groove im Zusammenspiel mit dem Schlagzeug. Es sei wohl die gleiche Frage wie beim Tanzen: Wer führt? Normalerweise hänge er sich an das Schlagzeug oder an den Gesang dran, das laufe dann meist ganz gut und sicher. Aber dass er jetzt bei diesem Stück mit seinem Piano-Motiv die rhythmische Führerschaft übernehmen soll, das ist neu und schwierig.
Ein weiterer Versuch, diesmal wieder mit einem Rhythmus zur Orientierung für Jean. Aber kein mechanischer Click soll es sein, sondern ein organischer, lebender, atmender, fühlender Click-Mann! Pola muss her. Als Rhythmusgeber mit dem Fingerschnipp. „We need Pola to swing it like Sammy Davis Jr.“, verfügt Ian. „Bring Sammy Davis in!“
13:40 Uhr
Take Nummer sechs.
Pola steht mit einem Kopfhörer im Aufnahmeraum ein paar Meter von Jean entfernt und schnippt den Analog-Click.
Ian: „I definitely wanna feel it breathe between the chorus and the verse.“
„komm und trag mich, schlag mich nieder, ich bin nicht still genug“, singt Judith.
Ian: „Feels good to me. For me, the song really came alive like this.“
Pola: „It’s my presence.“
Noch ein Take in dieser Konstellation, dann spult Ian das Tape zurück. Als Pausenmusik eine kleine radioheadhaft mollerne Quasi-Jazz-Improvisation von Jean und Pola.
13:55 Uhr
Mark und Jörg haben unverhofft gerade nichts zu tun. Mark sitzt in der Küche am Laptop. Facebook checken? Von wegen! „Ich überweise die Stromrechnung meiner Eltern von deren Konto.“ Nicht Surfen sei hier angesagt, sondern „eine Runde Sohnsein“.
14:04 Uhr
Judith hat sich eine halbe Avokado zum Auslöffeln aus der Küche geholt. Ist Avokadoauslöffeln in der Gesangskabine gern gesehen? In jedem Fall ist es erlaubt.
14:05 Uhr
Und NOCH ein Take in dieser Konstellation.
Pola erklärt, dass er zwischendurch von Schnippen auf Klatschen wechseln muss, weil ihm sonst der Finger abfällt. Aha. Ist das die knallharte Showbiz-Schule? Was würde Sammy Davis Jr. sagen?
Kleines Highlight für den Protokollanten: Ian sagt den schönen Studio-Engineer-Klischeesatz „We’re rolling!“
Auch cool: Jean wiederholt den Klavierpart am Ende für den Fade-Out, irgendwann drückt dann Ian immer auf seinen Mikro-Knopf und raunt ihm zu „last cycle“ oder „last one“, was sich im Kopfhörermix enorm lässig anhört. Dieses Lo-Fi-Mikro, das sich mit einem Knacken zuschaltet und dann hört man die quäkige Stimme des Produzenten, der eine knappe Anweisung gibt. Manchmal nehmen Bands einen solchen Produzentenquaker als Effekt mit in den Song, etwa MGMT auf ihrer neuen Platte. Weil’s einfach so cool klingt.
FAKTUM: Apropos cool: Kopfhörer heißen im Studio-Jargon nicht etwa „Headphones“ (das wäre zu einfach) oder „Phones“ (pff) oder gar „Kopfhörer“ (wo denken Sie hin!?), sondern vielmehr „cans“. Check es, wannabe.
„Ich brauch einen Freund mit weiten Schwingen
Der mich heil nach Hause bringen kann
Durch die Dunkelheit, den Wind und den Regen
Um mich dann vor meine Tür zu legen.“
14:11 Uhr
Ian ordert nahtlos noch einen weiteren, letzten Take. „Okay, let’s do one for luck and then we can…“ Mittagspause machen? Yeees! Das ist professionelles Arbeiten.
„One for luck“ ist einer von Ians Standardsätzen, den alle hier besonders liebgewonnen haben, weil er immer den Abschluss einer Arbeit ankündigt. Er sagt in wenigen Worten etwa Folgendes aus: „Okay, das hier ist im Kasten, aber jetzt schieben wir noch ganz entspannt und ohne Erfolgsdruck einen Durchlauf hinterher, vielleicht passiert ja noch etwas Ungeahntes, Tolles.“
14:18 Uhr
Jean ist es wichtig, dass im Protokoll festgestellt und festgehalten wird, die Entscheidung, den Song jetzt doch nicht live mit der ganzen Band einzuspielen, sondern mit Overdubs aufzubauen, sei eine „musical decision“ und nicht den beschränkten Fähigkeiten des Pianisten geschuldet. „Kannst du das aufschreiben, Josef?“
Okay.
Aufgrund der mäßig ausgebildeten Fähigkeiten des Pianisten war ein band effort unmöglich.
Ups!
Beim Anhören des letzten Takes stellt Judith fest, dass sie dabei einen ganzen Teil der Strophe übersprungen haben und vier Textzeilen fehlen. Na und, dann gibt’s halt ein paar Zeilen weniger, sagt Ian schulterzuckend. „It’s only words …“ Nur Spaß.
Ian ist zufrieden mit den Gesangstakes von Judith. Sie müsse eigentlich nicht mehr ran, sagt er. Die Sängerin ist konsterniert. „You don’t want me to sing again? I was just starting to having fun!
Jean sagt, dass er später noch „den Artworkbeauftragten“ was zeigen muss. Judith ist die Artworkbeauftragte, zusammen mit Mark kümmert sie sich um die Gestaltung des Plattencovers. „Eigentlich ist Mark der Top-Ansprechpartner …“
Was gäbe es denn zu sehen, Jean?
„Ich hab da eine schöne Fotoreihe gefunden von mir.“
Und die würdest du gern auf dem Cover sehen?
„Nee, würde gar nicht. Ich biete sie an.“
Wie, von dir? Fotos von dir?
Nein, es sind … halt tolle Fotos, die Jean gemacht hat.
14.36 Uhr
MITTAGSPAUSE
Fortsetzung folgt …
Lesen Sie ab nächster Woche, warum nach so einer Mittagspause auf einmal wieder alles ganz anders sein kann, wie Judith Holofernes Stillen, Pollenallergie und Popmusik unter einen Hut bringt und was genau Pola Roy meint, wenn er sagt: „I am the greatest!“
Mehr Kommentare werden geladen...