Die fünf Tage von Tritonus – Teil 5

21. April 2010
Ein halber Mittwoch: Songs anhören
10.28 Uhr
Beim Frühstücks- und Begrüßungstee in der Küche setzt Ian seine Mission fort, die Deutschen mit der urbritischen ScienceFiction-Kult-Serie „Dr. Who“ vertraut zu machen. Er hat Judith und Pola eine Staffel auf DVD geliehen und fragt nun täglich ab, ob sie schon wieder eine Folge gesehen haben und welche und überhaupt. „I could talk about it for days.“

Judith: „What did you do last night?“
Ian: „I comped ‚Wolf and Brigitte’.“

Ian ist gestern Nacht um halb zwei raus.

11:15 Uhr

Jean, Mark und Jörg laufen ein. Was nunmehr ansteht – und letztlich den ganzen Tag in Anspruch nehmen wird – ist das Durchhören aller 15 Songs in Rohversionen, den so genannten „bounces“. Morgen Abend werden erstmals Vertreter des neuen Labels der Helden im Studio zu Besuch kommen und Musik vorgespielt bekommen – ein sehr wichtiger Termin. Es soll nun zum einen entschieden werden, welche Songs schon gut genug dastehen, um sie herzuzeigen. Und dann soll generell ein Überblick gewonnen werden, was wo noch fehlt sowie die Erinnerungen aufgefrischt werden an Sachen, an denen die Band jetzt länger nicht gearbeitet hat.

Jean windet sich aus seinem Stuhl und ächzt – bricht seine Knieverletzung, die er sich vor ein paar Wochen bei ungenehmigtem Fußballspiel zugezogen hat, wieder auf? Jetzt, wo Pola gerade am Genesen ist? Zwei WSH-Mitglieder waren zuletzt vom Verletzungspech verfolgt – Ian nennt es „The curse of the Wir sind Helden knee“.

11:35 Uhr

In der Regie wurden alle verfügbaren Stühle zusammengezogen. Judith, Pola, Mark, Ian, Jean und Jörg sitzen im Kreis. In der etwas schallgedämpften Gesangsbox sitzt Babysitterin Julia mit Baby Mimi.

Es geht los. Als erstes „Wolf und Brigitte“. „Check the vocal comp“, sagt Ian.

Nach der ersten Strophe stellt Ian fest, dass die Drums fehlen. ProTools weigert sich gerade, die Schlagzeugspur abzuspielen. Sie wird angezeigt, aber man hört sie nicht.

Jean: „Hm. Irgendwie vermisse ich gar nichts.“

Pola schon.

Jean: „Hast du jetzt die ganze Zeit nur auf deinen Schlagzeugeinsatz gewartet, oder was?“

Jetzt aber. Jetzt hört man erst mal nur das Schlagzeug. Pola findet diese Version sehr gut.

Judith ist bei ein paar Textstellen nicht ganz sicher: Hier vermisst sie die ein oder andere Silbe. Da ist eine Aussprache-Unreinheit bei  „und verkaufte Batiksachen“. Und dort ein verschluckter Buchstabe bei „es gibt nichts, was man nicht tut“. Und Jean hat eine Strophe in Redundanzverdacht: „There’s an ‚und’ where normally there shouldn’t be a ‚und’“.

Ian wundert sich, dass es Judith so wichtig ist, dass der Text genau verstehbar ist und keine Silben verschluckt werden. Bei einer englischsprachigen Produktion wäre ihm das nicht so wichtig. Judith erklärt, dass dadurch, dass man auch hierzulande englische Texte gewohnt ist, die Leute dann bei deutschen Texten doppelt so genau auf die Worte hören.

Pola: „Das liegt daran, dass wir das Land der Dichter und Denker sind, not the country of workers and football, you know.“
Ian: „Yeah, I see. Peter Maffay, die Flippers. All the great lyricists.“

12.01 Uhr

„Lonely Planet Germany“. Melodisch-atmosphärische Wonnigkeit mit angenehmen mid-tempo dahinrollendem Dengel-Pucker-Rhythmus.

Ian: „What is this about?“
Judith: „About Berlin being nice in the springtime.“

Das wird dem Song letztlich zum Verhängnis werden – aber wir greifen vor…

Es wird diskutiert, ob der Text vielleicht am Ende in der Aufzählung der Stadtviertel zu lang wird und ob man eines rauslässt, und Ian schlägt vor, doch einfach die „Marzahn“-Zeile wegzulassen, wenn’s bei der ohnehin Verständnisprobleme gibt, wie Judith vorhin anmerkte. Aber Judith als Texterin wendet ein, sie hätte Marzahn gern drin, um das Ost/West-Verhältnis zu wahren. Pola: „Es sollte zumindest ein Viertel im Westen erwähnt werden.“ Ha! Diese Berliner! Da geht’s um Quartier-Politics!

Dann geht’s drum, ob der Text mit den allerhand verschiedene Sprachen, exotischen Vornamen und diversen Berliner Stadtvierteln, die darin vorkommen, vielleicht generell zu schwer kapierbar ist. Mark sagt, ihm gefalle gerade das an WSH-Texten, dass man’s viellicht beim zweiten Hören immer noch nicht richtig kapiert hat und sich freut, wenn es sich langsam erschließt. Jean sagt, er legt keinen Wert darauf, auf Biegen & Brechen von Kreti & Pleti verstanden zu werden und sich da eventuell gar anzupassen. Ha!

Jean hat einen fehlplatzierten Atmer von Judith an einer Stelle gehört. Sie finden die Stelle und Ian erkennt, dass das eine ist, über die er noch nicht kontrollmäßig drübergeangen ist und stellt klar, dass sich die Band generell keine Sorgen machen muss, was störende Atmer angeht. „I’m very tight on breaths. I’m not relaxed on breaths, I always sort them out.“

12:32 Uhr

„Alles“. Oder „Alles ist alles“. Über den Titel muss noch entschieden werden (letztlich heißt der Song „Alles“ und wird die erste Single vom neuen Album).

Ein fiebriges Piano-Stakkato in der Strophe, der Refrain macht groß auf. Gefühlt zum ersten Mal das bairische Wort „Haxen“  in einem Helden-Text. Nur gefühlt oder auch tatsächlich?

Jean wäre dran gelegen, es noch ein bisschen aufzuräumen und den Hall auf dem Klavier etwas zurückzunehmen, damit es nicht so „coldplay-y“ klingt. Für Jean klingt es noch etwas zu wuchtig, mitunter. „Like the band is pushing Judith in a corner, and that shouldn’t happen.“

Judith: „Thank you.“

Jean hat ein bisschen Angst, dass sie den Track überladen könnten. Weil jetzt schon so viel drin ist. Es gibt noch die Idee, Judiths „alles ist alles ist alles ist alles“ im Endrefrain auf den Kanälen links und rechts ineinander/gegeneinanderzumischen, um es quasi um den Hörer rotieren zu lassen. Aber schaumer mal.

12.47 Uhr

Teepause. Ian macht seinen English Special.

Die ganze Küche voller teetrinkender Leute. So ist das bei englischen Produktionen: Tee trinken und über „Dr. Who“ quatschen. Und Ian gibt noch ein bisschen englische-Akzente-Fortbildung. Heute: London. Zur Übung der Satz: „How now brown cow?“ Den spricht der Londoner in etwa so aus: (leicht nasal) „Aah-nah-brah-cah?“. Warum tut der Londoner das?

Einmal mehr taucht die Frage auf, wie viele englische Teams eigentlich noch im Champions-League-Finale stehen. Ian? Egal.

Jean ruft seinen Physiotherpeuten an, dass er es wohl nicht schaffen wird, in 45 Minuten da zu sein. Oder eher gar nicht mehr heute.

13:07 Uhr

Es geht weiter. „Dumm die, die dumm“. Ausgelassen hoppelnd-groovendes, „damn catchy“ (Ian) Pop-Ding mit „dumdididum“-Refrain und quietschig furzendem Synth-Sound. Der am wenigsten weit entwickelte Track bisher.

Was man da noch alles machen könnte drauf?

Pola: „It’s the show stairs. You could have anything on it. Horns, strings…“
Jean: „For me it’s more like Beach Boys harmonies.“

Da ist ein 1:1-Musikzitat von einem alten Song am Ende der Strophe – aber was ist das? Die Band ist sich des Zitats bewusst, weiß aber nicht, woher es kommt. Der Protokollant kommt auch nicht drauf. Irgendwas Motown-mäßiges?

Judith schreibt: Hmmm… noch ein Song, der´s am Ende nicht auf die Platte geschafft hat. Wenn ich das jetzt hier so lese, finde ich´s fast ein bisschen schade drum. Keine schlechte Musike! Hat aber irgendwie nicht in und auf´s Album gepasst. Machen wir irgendwas anderes Schönes mit!

13:22 Uhr

Danny Engel is in da house! Er klappt sofort seinen Laptop aus und arbeitet was, während er mit einem Ohr zuhört.

Jetzt der Song mit dem Arbeitstitel „Rahula“ (der, wie wir heute wissen, später in „Flucht in Ketten“ umbenannt werden wird). Ian ist zufrieden mit der Atmospähre des Songs: „Sänsuchtig. I think we achieved that. Wechmutig.“ Extrem langsamer langer Fade-Out. „They don’t call me the fade king for nothing“, sagt Ian.

„Eine Flucht in Ketten ist kein Kinderspiel“, singt Judith. Und: „es kommt mir vor, als sänge ein Reptilienchor für uns“. Ein Reptilienchor? Geistige Notiz: Beizeiten die Dichterin nach dem Reptilienchor fragen.

Judith schreibt: Hihi.

Da sollen noch ganz viele Beavies gemacht werden, sind sich Judith und Ian einig.

Bei Mark fällt in diesem Moment ein Groschen: „Beavis. Ah! BVs, backing vocals!“
Beruhigend, dass auch Mark „Profi Annan“ Tavassol das noch nicht wusste. Früher, auf „Deutsch“, hat das immer „Backup“ geheißen, sagt er. Aber man ist ja jetzt, wie gesagt, eine englische Produktion.

Ian wundert sich über die deutsche Sprache. „You guys. Either you have really long words or extremely short ones. You put eight words into one and then you separate others that are really short already.“

Pola: „Sorry that we have the best language in the world.“

13.33 Uhr

Jetzt „Bring mich nach Hause“. Jeans Pianomotiv in full glory eingebettet in den Bandsound. Toll geworden. Jetzt auch mit Fade-Out am Ende. „Good fade, fade king!“, freut sich Judith.

Judith meint, wenn sie nicht noch so tolle BVs für den Song vorbereitet hätte, würde sie fast sagen, dass es auch ohne ginge. Man könnte den Song auf jeden Fall präsentieren morgen, er funktioniert auch ohne Hintergrundgesänge schon ganz wunderbar. Pola gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Leute von der Plattenfirma das ja wohl verstehen würden, wenn man ihnen sagt, dass das „work in progress“ ist und man sich noch was dazu vorstellen muss. „They’re in the music industry, they don’t make chairs …“

Mark: „Yeah, they’re famous for their imagination.“

Mark ist sich nicht sicher, ob die Keyboard-Bläser schon so früh einsetzen sollten. Jean weiß nicht, ob das Intro vielleicht ein bisschen zu lang ist. Aber klar ist: „This is a shower.“ Keine Dusche, sondern ein Show-er, ein Song, der morgen hergezeigt werden kann.

13:49 Uhr

„Alles auf Anfang“. Was gehtn hier? Funky Cajun-Ragga-Afropop-Dings. Mit Akkordeon, und jetzt kommt auch noch ein Banjo daher. Yee-haw! Fehlt eigentlich nur noch ein Waschbrett.

„fühlst du dich machtlos / geh raus und mach los!“, singt Judith

Jean sagt, dass ihm in dem Zwischenrufen – „Fünf vor zwölf!“ und „Ach nee“ – noch eine Frauenstimme fehlt. „Just the boys choir“ ist ihm da zu wenig.

Judith: „The ‚ach nee’ is really important and we should work on it.“

13:56 Uhr

Jörg verabschiedet sich bis nach der Mittagspause.

Jörg: „Tschüs, bis später.“
Alle: „Hau rein.“ (Englisch auszusprechen; „how Rhine!“)

Es geht weiter um „Alles auf Anfang“. Judith ist wichtig, dass nicht zurückgerutscht wird in den „alten“ WSH-Sound. Weil ihr die „newness“ der Songs wichtig ist. Jean sieht da speziell bei diesem Song kein Problem: „This one is SO far away from classic Wir sind Helden …“ Stümmt.

14.02 Uhr

Judith schaut aus der Tür der Regie durchs Fenster in den Hof und verblüfft mit der trockenen Feststellung: „Es schneit.“ Aha. Nun, es ist Graupel, aber übergehend in Schneetreiben. Was das nun wieder soll?

Pola: „Es fehlt noch ein Percussion-Exzess. Das will ich noch ausleben in diesem Song.“
So eine Coda am Schluss mit viel Getrommel?
Pola: „Nein, von vorn bis hinten.“

Oh.

14:14 Uhr

Als nächstes das Lied mit dem Arbeitstitel „Drama Dramatika“ bzw. „Dramatikka“, das später einfach „Dramatiker“ heißen wird. Der Protokollant erkennt den feingliedrig mit Akustikgitarre dahinpuckernden Song wieder, dessen erste Takes er bei einem früheren Besuch im Tritonus vor etwa vier Wochen miterlebt hat. Der ist aber groß geworden! Damals haben sich die Helden davor zur Inspiration „Le Vent Nous Portera“ von der französischen Band Noir Desir angehört, und sie haben etwas sehr charmant Leichtfüßiges hingekriegt. Plus, in der Tat, einen Melodiepartikel aus „Lady In Black“ von Uriah Heep entwendet.

Tolle Grooves und Mikrogrooves und super Dynamiken. Judith mit opernhaftem Anflug im Refrain, „Draaamaa …“ und crazy Zungenbrecher-Reimen in der Auslaufspur. Später in der Produktion wird noch Jeans alter Freund – und zwischenzeitlicher Helden-Tourtrompeter – Christoph van Hal reinkommen und mit dem Flügelhorn rangehen an gewisse Stellen.

14:30 Uhr

Der nächste Song klingt im Ansatz nach original Helden. Ah. Das ist also „Die Träume anderer Leute“, von dem schon so viel geredet worden ist. Tolles kaskadisch-zirkuläres Riff, das an „Cracking Up“ von The Jesus And Mary Chain-Riff erinnert.

Jessas. Fast eine Krisensitzung nach dem Durchlauf. Jean macht einen Vorstoß, er wolle ja keine schlechten Vibes reinbringen, aber er habe nach der Hälfte des Songs das Gefühl, dass es ihm langweilig wird. Mark meint, this song could use some … „Was heißt ‚stauchen’?“ Compressing the arrangement.

Die „journey“, die der Song nehme, sei noch nicht wirklich stringent. Die „journey“ – ein Ausdruck, der öfter fällt – ist offenbar der dynamische/arrangementmäßige Ablauf eines Songs. Die Journey jetzt führt erst mal: in die Mittagspause.

Fortsetzung folgt …

Seien sie auch nächstes Mal wieder dabei, wenn Judith Holofernes ihren „Grace Slick moment“ gekommen sieht, Ian Davenports Bleistift mal wieder verloren geht („I can’t work like this!“), Pola Roy sich und seinen Produzenten zu der Entscheidung beglückwünscht, Jean-Michel Tourette für diese Platte noch in der Band behalten zu haben und Mark Tavassol einen großen Satz gelassen aussspricht: „Du kannst keinen unendlichen Loop bouncen.“ Was? Isso.